Musikalische Temperaturen

Auszug aus meiner Arbeit Musikalische Stimmungen – Theorie und Praxis ihrer Veränderungen im Gehörbildungsunterricht (s.Veröffentlichungen)

Vom Verständnis der Stimmungsproblematik über die Behandlung wichtiger Temperaturen bis hin zur Stimmung eines Klaviers vermittelt meine Arbeit Musikalische Stimmungen – Theorie und Praxis ihrer Veränderungen im Gehörbildungsunterricht in didaktischer Aufbereitung grundlegende Einblicke in dieses Themengebiet. Eine CD mit zahlreichen Hörbeispielen führt klanglich eindrucksvoll unterschiedliche Stimmungen vor und dient zum Erarbeiten der geforderten Höraufgaben. Bei musikalischen Stimmungen und den dabei auftretenden Schwierigkeiten, ohne die es vorgenannte Arbeit nicht gäbe, handelt es sich mathematisch gesehen um Divergenzen zwischen den Potenzreihen von Primzahlen. Diese etwas trockene Definition läßt nicht erkennen, welche akustisch klanglichen Phänomene und sinnlichen Hörerfahrungen sich dahinter verbergen. So war es mir ein wichtiges Anliegen, v.a. durch sehr unterschiedliche Hörbeispiele einen Eindruck davon zu vermitteln, ohne dabei jedoch die angedeuteten mathematischen Hintergründe zu vernachlässigen. Ein entscheidendes Erlebnis vermittelte mir eine Reise in die Ems-Dollart-Region Norddeutschlands, die mit mehr als 300 historischen Orgeln und weiteren Instrumenten, wie dem 19-stufigen Cembalo universale in Weener, die reichste Orgellandschaft der Welt ist. Hörbeispiel 19-stufige Oktave des Cembalo universale, Tonfolge c-c#-des-d-d#-es-e-e#-f-f#-ges-g-g#-as-a-a#-b-h-h#-c

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Hörbeispiel Cembalo universale: im Quintenzirkel aufsteigende Akkordsequenz von C- bis C-Dur 
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Hörbeispiel Cembalo universale: im Quintenzirkel aufsteigende Akkordsequenz von C- bis His-Dur 
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Hier wurde deutlich, daß es sich mit musikalischen Stimmungen etwa so verhält wie in folgender Geschichte. Es unterhielten sich drei Blinde über einen Elephanten. Der erste berichtete, er sei unglaublich groß und stark und hätte dennoch eine weiche und warme Haut. Der zweite behauptete das Gegenteil, denn er hätte schließlich mit beiden Händen um einen seiner nassen Füße fassen können und der Rest seines Körpers sei hart wie ein Stein. Der Dritte schließlich glaubte, der Elephant sei sehr zart beschaffen und könne bestimmt gut fliegen, da er ständig den Windhauch seiner Ohren, die er für Flügel hielt, spürte. So ist denn viel Unterschiedliches und oft auch Streitbares über dieses Thema zu lesen. Da verschiedene Stimmungen auf verschiedenen Instrumenten so unterschiedlich klingen, macht es wenig Sinn, z.B. den Klang einer mitteltönigen Stimmung auf dem Papier zu beschreiben. Sehr viel besser ist es, ein Instrument aus der Zeit zu hören, in der diese Temperatur vorherrschte. Hörbeispiel der Orgel in Rysum (älteste bespielbare Orgel Nordeuropas von 1457): Quintanstiegssequenz in mitteltöniger Stimmung 
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Hörbeispiel Choral „Aus tiefer Not“ in mitteltöniger Temperatur 
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Betrachtet man die Entwicklung der Stimmungssysteme bis heute, so kann man feststellen, daß den Musikern und Theoretikern der damaligen Zeit die Problematik und mit zunehmender musikgeschichtlicher Entwicklung die Unzulänglichkeit der gerade vorherrschenden Stimmung bewußt war und so kam die Entwicklung auf diesem Gebiet eigentlich nie zur Ruhe. Im Gegensatz dazu fehlt vielleicht, was musikalische Stimmungen betrifft, vom heutigen Blickwinkel der Gleichstufigkeit aus der Rückblick auf andere nicht weniger gute Stimmungen. Der Begriff „historische Stimmungen“ suggeriert dabei allzu leicht, dass diese Stimmungen der Vergangenheit angehören, also veraltet bzw. überholt sind. Heute hat die gleichstufige Stimmung einen Stand erreicht, von dem sie wahrscheinlich nicht verdrängt werden wird. Dennoch stellt sich, gewissermaßen als Leitgedanke vorangestellt, nach Abschluß oben genannter Arbeit die Frage, ob mit der heutigen gleichstufigen Stimmung das wirkliche Optimum aller möglichen Temperaturen erreicht wurde. Wie und ob man sich darüber Gedanken macht, mag jeder nach der Beschäftigung selbst entscheiden. Wenn man die Musik als eine Kunst für das Ohr betrachtet, lohnt es sich sicherlich über den Klang einer Stimmung zu diskutieren. Ich möchte mit meiner Arbeit vor allem über Hörerfahrungen das Interesse für dieses faszinierende und auf immer neue Wege führende Thema wecken.